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Samstag, 02. August

Amazon, Google & Co.: Warum unsere digitale Abhängigkeit gefährlich ist

BOZEN. Smartphones, Cloud-Dienste, künstliche Intelligenz – digitale Technologien durchdringen längst unseren Alltag. Doch die Systeme dahinter gehören meist US-Konzernen. Was bedeutet das für unsere Freiheit, unsere Wirtschaft, unsere Demokratie? Und wie kann Europa die Kontrolle zurückgewinnen?

Digitale Übermacht: Die Tech-Giganten aus den USA dominieren zentrale Infrastrukturen und Dienste – Europa bleibt oft nur die Rolle des Nutzers. shutterstock
Cybersicherheitsexperte Roberto Baldoni darüber, warum uns das alle angehen sollte – und was jeder einzelne beitragen kann. Er ist Gastredner beim „Raiffeisen Summer Apéro“ des Raiffeisenverbandes Südtirol am Freitagabend in Bozen.


Herr Baldoni, überall ist von digitaler Souveränität die Rede. Was genau heißt das – und warum sollte das jeden von uns interessieren?


Roberto Baldoni: Unsere Gesellschaft, unser Arbeitsleben und die Wirtschaft – sowohl lokal als auch global – hängen heute von Daten, den Technologien, die sie verarbeiten, und den Menschen, die sie steuern, ab. In der Praxis leben wir in einer neuen digitalen Welt, in der die Regeln oft fehlen oder ineffektiv sind. Sie halten nicht Schritt mit der Komplexität, der globalen Dimension und der Geschwindigkeit des Wandels.

In diesem Kontext entstehen ständig neue Technologien, die sich überlagern und kombinieren – manche, wie künstliche Intelligenz, verändern ganze Sektoren bereits jetzt, andere wie das Quantencomputing werden das in naher Zukunft tun. Digitale Souveränität bedeutet in diesem Zusammenhang: Wer besitzt die Daten? Wer kontrolliert die Technologien? Und wie bewusst sind sich die Bürgerinnen und Bürger der Folgen?

Bedrohungen der digitalen Souveränität wie Cyberangriffe, Desinformation oder Fehler von KI-Systemen betreffen nicht nur Regierungen oder Spezialisten – sie wirken sich direkt auf das tägliche Leben aller Menschen aus. Deshalb sollte dieses Thema jede Bürgerin, jeden Bürger und jedes Unternehmen interessieren.

Viele sagen: Europa ist längst zu abhängig von amerikanischen Tech-Konzernen. Ist es zu spät, diesen Kurs zu korrigieren?

Baldoni: Die Lage ist leider sehr schwierig. Jahrzehnte der Trägheit – unter dem technologischen und sicherheitspolitischen Schutzschirm der USA und mit der Produktionskraft Chinas im Rücken – haben Europa in eine starke Abhängigkeit geführt und gleichzeitig die eigene Innovationsfähigkeit geschwächt.



Um das zu ändern, müsste Europa eigene technologische Ökosysteme schaffen – bei KI, Halbleitern, Cloud-Diensten und Software – die global wettbewerbsfähig sind und in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden werden. Das Ziel muss sein, eigene „Big Tech“ hervorzubringen.

Dazu braucht es aber eine langfristige, politisch entschlossene Strategie auf europäischer Ebene – mit einem voll funktionierenden Binnenmarkt, wie ihn die Berichte von Draghi und Letta fordern: mit dem Abbau von Handelsbarrieren und internen Beschränkungen, einer gemeinsamen wirtschaftlichen Außenstrategie und einer gemeinsamen Industriepolitik. Selbst große Volkswirtschaften wie Deutschland haben heute nicht mehr die nötige Skalierungskraft, um das allein zu schaffen.

Braucht Europa mehr gemeinsame Entscheidungsstrukturen?

Baldoni: Ja. Wir müssen das Einstimmigkeitsprinzip überwinden, das strategische Entscheidungen verhindert. Mit einem Vetorecht wie dem heutigen könnte man nicht einmal ein Wohnhaus verwalten. Und dennoch verschwinden selbst ambitionierte Initiativen wie die Berichte von Draghi und Letta schnell wieder aus dem politischen Diskurs.

Die EU-Kommission bleibt oft in der Bürokratie stecken, während der Rat – das eigentliche Machtzentrum – politisch tief gespalten ist. Europa steckt dadurch fest in einem langsamen Ringen um Kompromisse, die zwangsläufig mittelmäßig ausfallen. Währenddessen treffen autokratische Staaten schnelle Entscheidungen, und die USA erhöhen mit Präsidialdekreten das Tempo. Europa hingegen diskutiert – und verliert dadurch Handlungsspielraum. In dieser Lähmung beginnen selbst alte Mächte wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien, sich außerhalb des EU-Rahmens bilateral auszutauschen, weil sie das europäische Problem erkennen.

Warum fällt es Europa so schwer, sich von Microsoft, Alphabet oder Amazon zu lösen?

Baldoni: Weil es in Europa keine Alternativen gibt, die vergleichbar zuverlässig, skalierbar und wettbewerbsfähig sind – weder für die öffentliche Verwaltung noch für Unternehmen oder private Nutzer. Deshalb sind wir gezwungen, auf US- oder chinesische Anbieter zurückzugreifen, wenn wir technologisch mithalten wollen.

Das Problem ist strukturell: Europa schafft es nicht, digitale Anbieter aus dem nationalen Rahmen heraus großzumachen. Der Binnenmarkt existiert auf dem Papier, wird aber in der Praxis durch nationale Rivalitäten behindert, die eine echte industrielle Integration verhindern.

Wenn ein nationaler Champion – etwa aus Frankreich – gegen globale Giganten antritt, hat er kaum Chancen. In den USA und in China wurden die eigenen Akteure immer geschützt und gezielt aufgebaut, gestützt durch den großen Binnenmarkt und durch sicherheitspolitische Interessen. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 hatten Ericsson und Nokia noch 80 Prozent Marktanteil bei Netzwerktechnik in China. Heute sind es gerade noch 5 Prozent – ersetzt durch Huawei und ZTE.

In Europa setzt man große Hoffnungen auf Projekte wie GAIA-X. Was halten Sie davon – Substanz oder Show?

Baldoni: GAIA-X ist keine reine PR-Aktion. Das Projekt zeigt vielmehr, wie strukturell schwach der europäische Ansatz ist: viele kleine nationale Akteure, die gemeinsam um eine interoperable Lösung ringen.

Aber industriell gesehen bleibt GAIA-X fragil. Im Digitalbereich entstehen starke Akteure meist aus innovativen Start-ups mit globalen Ambitionen – gestützt von dynamischen Ökosystemen wie in den USA oder Israel, wo Kapital, strategisches Denken und Umsetzungsstärke zusammenkommen.



Europa hingegen versucht, nationale Schwächen zu bündeln, um die strukturellen Grenzen zu überwinden. Das ist verständlich – und hat in anderen Bereichen wie der Luftfahrt mit Airbus funktioniert. Aber der Digitalbereich ist schneller, weniger reguliert und basiert auf Skaleneffekten und First-Mover-Vorteilen. Ohne starke Rahmenbedingungen ist es extrem schwer, echte europäische Player aufzubauen.

Digitale Souveränität – ist das ein wirtschaftlicher Vorteil oder ein politisches Ideal? Und sind wir als Nutzer nicht auch Teil des Problems?

Baldoni: Digitale Souveränität ist keine Vision, sondern eine notwendige Bedingung, um wirtschaftlich, politisch und strategisch handlungsfähig zu bleiben – in einer Welt, in der Technologie zentral geworden ist. Wenn Europa keine eigenen Infrastrukturen, Softwarelösungen und Plattformen aufbaut, bleibt es verletzlich – wie beim Thema Energie.

Aber das Problem liegt nicht nur bei den Regierungen. Auch wir Bürgerinnen und Bürger tragen Verantwortung. Die digitale Bequemlichkeit hat uns dazu gebracht, uns fast blind an außereuropäische Dienste zu gewöhnen – oft ohne zu hinterfragen, was das langfristig bedeutet.
Jedes Mal, wenn wir ein kostenloses, aber nicht-europäisches Produkt nutzen, geben wir ein Stück unserer digitalen Autonomie auf. Ohne informierte und bewusste Nutzerinnen und Nutzer bleibt digitale Souveränität ein leeres Schlagwort.

Sind Sie optimistisch, dass Europa diese digitale Unabhängigkeit noch erreichen kann?

Baldoni: Mit dem Herzen: ja. Mit dem Kopf: eher nein. Die geopolitische Lage blockiert derzeit den Europäischen Rat und verhindert die großen Entscheidungen, die es bräuchte: mehr Befugnisse für Brüssel, ein starker europäischer Kern – idealerweise mit Frankreich, Italien und Deutschland – und ein gemeinsames industriepolitisches und finanzielles Vorgehen auf europäischer Ebene.

Nur mit dieser Entschlossenheit können wir unsere technologische Abhängigkeit reduzieren – und eine echte strategische Interdependenz mit den USA und China aufbauen. Das ist die Voraussetzung, um auf Augenhöhe auf Trump’sche Zölle, auf chinesische Dumpingpreise oder auf hybride Bedrohungen aus Russland reagieren zu können. Ohne digitale Souveränität gibt es im 21. Jahrhundert keine echte Souveränität mehr – in keinem Bereich.

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